Florjan Lipuš über Peter Handke
geschrieben am 25.09.2019 11:52Kärntens Kulturschaffende porträtieren Kärntens Kulturschaffende. Eine Serie.
„Auf der Suche nach sich selbst ist Peter Handke Schriftsteller geworden.“
Wir befinden uns in Tanzenberg, im Knabenseminar der Diözese Gurk, im Zöglingsheim der besonderen Art, und in der Zeit einstiger Gymnasialjahre, nur wenige Jahre nach der Zeit böser, teuflischer Ereignisse, die in den damaligen Menschen ihre deutlichen Spuren hinterlassen haben.
Aufgeweckte Menschen, meistens Pfarrer und Kapläne, beschickten Tanzenberg mit Zöglingen, damit diese später ihre Reihen auffüllen würden, was in wenigen Fällen auch glückte. Für Kinder mittelloser Eltern war Tanzenberg die einzige Möglichkeit, dem Beruf des Holzknechts und Bauern zu entkommen. Zusammengesucht aus allen Ecken Kärntens waren wir eine zahme, angepaßte Herde, geübt in Gehorsam und Untertänigkeit, gar viele waren dankbar dafür, daß sie der harten Bauernarbeit zu Hause entfliehen, wenigstens für einige Zeit den Verhängnissen in den Familien, den Familientraumata aus dem Weg gehen konnten. In dieser angesammelten Gemeinschaft konnte man sich gut verstecken und sich von anderen abgrenzen, man konnte unbemerkt und unsichtbar bleiben.
Der Zögling Handke. So ist mir diese gewaltige junge Menschenmasse der ersten Tage in Tanzenberg im Gedächtnis geblieben. Aus dieser unpersönlichen Masse stach damals Peter Handke hervor, kein anderer Name unter den jüngeren Zöglingen ist mir erinnerlich geblieben. Peter Handke sehe ich heute noch vor mir, wie er ernst und allein und in Gedanken versunken an allen vorbei schreitet, mit einem Buch unter dem Arm, und den Hügel am Rande des Fußballfeldes ansteuert. Dort setzt er sich nieder und vertieft sichins Lesen. Auch sonst und andernorts sind Bücher Handkes treue Begleiter, sind sein Erkennungszeichen, sind Ersatz für alles und jedes. Während andere die Langeweile und das Heimweh auf Spielplätzen vertreiben, sucht Handke die Einsamkeit und die Stille. Wenn er nicht gerade liest oder lernt, denn er ist Vorzugsschüler vom ersten Tag an, beschreitet er, meistens allein, die weitläufigen Wege um Tanzenberg. Jahre später wird er über Dörfer und Felder, durch einsame Landschaften, auch durch den slowenischen Karst, wandern. Er wird zeitlebens Heimkehrer sein in seinen Texten, aber auch im räumlichen Sinn. Aus dem Raumüberfluß wird er sich in die Raumenge begeben, aus der Unbegrenztheit der Weite in die Beengtheit der Heimat, in die Knappheit der Kindheit. Er wird das Literaturleben im deutschen Sprachraum gründlich verändern und durcheinanderbringen. Und nicht nur im deutschen Sprachraum, auch das slowenische literarische Schreiben hierorts ist mit seinem Namen verbunden. Von allem Anfang an ist auch die slowenische Sprache ein wichtiger Teil Handkes geistiger Welt, sie begleitet ihn durch alle Zeiten und Phasen.
An Begegnungen erinnere ich mich nicht, wir kannten uns nicht einmal, gesellig und lustig war die Zeit nicht, wir wußten vielleicht um Orte und Täler, aus denen wir kamen. Jedes Dorf verkehrte mit seinesgleichen, auch die slowenischen Zöglinge hatten ihre eigene Notfamilie. Den scheuen und verängstigten, schweigenden Kindern der damaligen Zeit lag nicht an Annäherung und am großen Anknüpfen von Kontakten. Das unmittelbare Umfeld selbst förderte diese Vorbehalte und bestärkte die Schüchternheit und Scheu auch der meisten anderen. Auch das Marianum in Tanzenberg war nur eine von den vielen Niederlassungen der österreichischen Nachkriegslüge, eine Nebenstelle des Verschweigens und Verdrängens. Auch das bischöfliche Internat und die Schule waren zur Tagesordnung übergegangen, hatten sozusagen über Nacht aus den vergangenen guten Zeiten hinübergewechselt zu den zukünftigen guten Zeiten, als ob nur einige Jahre zuvor überhaupt nichts geschehen wäre, als ob es keinen Naziterror, keine mitgebrachten Schrecken und Ängste, keine Verfolgungen, Aussiedlung und Konzentrationslager gegeben hätte. Als ob nicht jeder zweite Zögling seelische Kriegsschäden erlitten hätte und, in allem allein, sich selbst überlassen, seine Wunden heilen mußte, so gut er konnte.
Peter Handke kam im Herbst 1954 nach Tanzenberg und verließ das Internat nach fünf Jahren. Mit dem Abgang riß die sichtbare, unbemerkte, stille geistige Verbindung mit ihm für eine Reihe von Jahren ab.
Im literarischen Hochgebirge. Von ihm hörte ich wieder, als er zu veröffentlichen begann und seine Bücher erschienen. Sie häuften sich, sein Ruhm wuchs und breitete sich über Nacht aus, schon mit jungen Jahren reihte er sich unter die Gestalter und Schöpfer der deutschen Sprache ein. Seine öffentlichen Auftritte widerhallten unüberhörbar in der österreichischen und deutschen Öffentlichkeit. Jetzt trug er nicht mehr fremde, ausgeborgte Bücher mit sichunterm Arm, jetzt schrieb er die Bücher selbst. Damals wie jetzt der Fels in der Brandung: Nicht nur Schreibende, aber die umso schmerzlicher, erleben heute bitter die Entwertung des Wortes, die Vernachlässigung und Verkümmerung der Sprachkultur, die Verrohung der Sprache. Längst vorbei die Zeit, als slowenische Aufschriften in Kärnten noch eine selbstverständliche Sache des Anstandswaren. Peter Handke, der seine literarischeLaufbahn auf diesem sanften Hügel am Fuße der altehrwürdigen Festung von Tanzenberg begann, erstieg indes hohe weite Berge und bewegt sich heute freimütig im literarischen Hochgebirge. Er ist aus Eigenem, aus eigener Kraft, ohne jede fremde Hilfe, ohne Seilschaft, zum Kletterer durch das literarische Hochgebirge geworden und hat so manchen und so mancher beim Erklimmen literarischer Ehren Hilfe geleistet.
Peter Handke übersetzte schon immer, übersetzte aus der Bewegtheit seines Geistes heraus, aus Freude an Sprachen und der Arbeit an ihnen und mit ihnen. Die Gegenwart zweier Sprachen in der Kindheit, die Tatsache, daß er im Elternhaus in zwei Sprachen aufwachsen konnte, hat den Zugang nicht nur erleichtert, sondern ihn geradezu beflügelt. Zu beneiden die Kinder, die von den Eltern von vorne herein mit zwei oder drei Sprachen ausgestattet werden, und armselig und bemitleidenswert die Menschen, die schon in der Zweisprachigkeit eine Belastung sehen. Der Schriftsteller und freie Denker Peter Handke, Kenner sowohl der griechischen und lateinischen Sprache als auch der zeitgemäßen europäischen Sprachen, zählt zu jenen, die mit ihren Handlungen und mit ihrer Haltung geistige Grenzen auslöschen, neue Maßstäbe setzen, den großen europäischen Kulturraum beeinflussen und beunruhigen und bereichern und aufregen.
Wortkunststücke. Zu seinem 70. Geburtstag schrieb ich einst: Auf der Suche nach sich selbst ist Peter Handke Schriftsteller geworden. Wo heute dieser Magier der inneren Welten, der Maler der inneren Landschaften ist, da versammeln sich Leser, stellen sich in Reihen auf. Besucher und Hörer, Freunde verstummen in Erwartung der Kunststücke. Die gezeigten Wortkunststücke sind es, die sie verweilen lassen.
Peter Handke konnte verwirklichen, was seine Berufung war. Auf der Suchenach sich selbst ist er Schriftsteller geworden, man kann auch sagen: um das Lebenauszuhalten. Das Schreiben ist zum Selbstschutz und zum Schutz vor der Außenwelt geworden. Wie immer die Gesellschaft auf seine Sichtweise und sein Kulturverständnis reagierte, auf seine persönliche Einstellung zu gesellschaftlichen Ereignissen, auf sein Schreiben und sein Auftreten,Peter Handke blieb immer sich selbst treu, beschritt neue, auch gewagte Wege, folgte beharrlich seinem Ziel, seiner inneren Stimme. Allein schon diese aufrechte menschliche Haltung verdient Anerkennung, und erst recht sein literarisches Opus. Dieses im Bewußtsein der Tatsache, daß die Handke’sche Bücherzählung für die Fachwelt und sonstige Leserschaft nur zu einem Fest werden kann.
Florjan Lipuš
1937 in Lobnik/Lobnig bei Železna Kapla/Bad Eisenkappel, lebt heute in Sele/Sielach, ist Träger zahlreicher Preise und Auszeichnungen, zuletzt wurden ihm 2018 – als erstem nicht deutschschreibendem Autor – der Große Österreichischer Staatspreis sowie im Feber 2019 der Goldene Verdienstorden der Republik Slowenien verliehen. Zu Lipušs bekanntesten Werken zählen Der Zögling Tjaz, Die Beseitigung meines Dorfes, Die Verweigerung der Wehmut, Herzflecken sowie Bostjans Flug. Zuletzt veröffentlichte er im März 2019 in deutscher Übersetzung die Erzählung Schotter (siehe DIE BRÜCKE Nr. 12, S. 43).
Es wurde die Orthografie des Schriftstellers beibehalten.